Führen mit Präsenz – Gedankenanstöße aus der Coaching-Praxis
Blog 10
Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist mir kürzlich wieder begegnet:
„Er ist ein anerkannter Fachmann. Ich brauche ihn im Team. Leider, denn eigentlich kann er gar nicht führen…“
Als Führungskraft, Geschäftsführer, Vorstand oder gar als Eigentümer eines Unternehmens andere Führungskräfte zu führen, ist ein Spagat sondergleichen. Soviel Literatur es gibt zu allem, was positives und wünschenswertes Führungsverhalten bedeutet, so wenig findet sich zum Thema dysfunktionales Führungsverhalten. Noch immer ist Expertenstatus oder im Vertrieb der gute Umsatz ein Kriterium für den Aufstieg, ungeachtet ob der oder diejenige wirklich andere führen will oder kann. Die Auswirkungen von Dysfunktionalitäten in solchen Funktionen jedoch kosten Unternehmen richtig viel Geld. Wenn Dysfunktionalität nicht erkannt wird, dann bauen die betroffenen Mitarbeiter ihr eigenes „System im System“ aus. Sie organisieren sich um das dysfunktionale Leitungselement herum, stellen verdeckte eigene Regeln auf und eröffnen das, was allgemein als Machtspiele bezeichnet und wahrgenommen wird. So gleiten Teams, Abteilungen, Bereiche und manchmal ganze Organisationen in Scheingefechte, organisierte Minderleistung oder schlichte Versorgungseinheiten in eigener Sache ab.
Grob negatives Führungsverhalten erkennt man doch sofort, denken Sie vielleicht jetzt. Klar, wenn jemand beleidigend, tyrannisch, aggressiv, autokratisch, egozentrisch, taktlos, erpresserisch, unfair, unsensibel, narzisstisch, machtbesessen, zerstörerisch oder unethisch führt, dann kriegen das (vielleicht) alle mit. Ist das wirklich so? Mir scheint, es ist nicht ganz so einfach.
Dysfunktionalitäten fangen im Kleinen an. Wie alle negativen Strömungen. Und manchmal sogar mit durchaus vernünftigen Gedanken. Zum Beispiel der Vorstand, der seine Geschäftsleitungsteams aus bewusst konträren Charakteren zusammenstellt. „Die sollen sich zusammenraufen, das ist mein Garant, das alles bedacht wird. Die sollen sich streiten und einigen.“. Gleichwohl wäre es möglicherweise zielführender, solche Konstellationen aktiv zu unterstützen, denn Zusammenraufen passiert nicht von selbst. Das kann dysfunktional im Kleinen sein. Oder der Bereichsleiter, der davon ausgeht, dass alle seine Abteilungsleiter selbstverständlich antizipieren, welche konkrete Bedeutung ihre Abteilungen im gesamten Unternehmen haben. Gleichwohl wäre es sicherer, diesen Part einzuspielen, weil auch das in der Regel nicht selbstverständlich passiert. Oder die Führungskraft, die nicht versteht, dass ein Mitarbeiter immer im Hinterkopf hat, dass er auch bewertet wird, selbst wenn man ihn nach „offenem und ganz ehrlichen Feedback“ fragt. Hier liegt die Wahrnehmung von Mitarbeiter und Führungskraft häufig weit auseinander, weil die Motivationen auf unterschiedlichem Stand sind. Wo beginnt also Dysfunktionalität wirklich und wo ist es nicht nur optional, sondern zwingend erforderlich gegenzusteuern?
Ein Merksatz sollte stets berücksichtigt werden: Als Führungskraft habe ich immer einen Anteil, wenn in meinem Verantwortungsumfeld etwas nicht läuft. Und zwar ausnahmslos immer. Die Frage „Was trage ich als Führungskraft dazu bei, dass die Entwicklung so verlaufen ist?“, ist wesentlich und häufig eine reiche Quelle für Erkenntnis, denn diese Wechselwirkung zwischen Mensch und Organisation bestimmt Kultur im Ganzen und Verhalten der Einzelnen.