Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist uns kürzlich wieder begegnet:
„Am liebsten würde ich mich selbständig machen. Ich habe nur keine Idee womit…“
Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass gerade in diesem Jahr viele Gespräche mit meinen Klienten auch um das Thema Sehnsucht kreisten. Darum was fehlt, wenn wir plötzlich nicht mehr die gewohnten Businessreisen absolvieren, wenn der Austausch mit Kollegen nur noch organisiert stattfinden kann, wenn im heimischen Umfeld das Gefühl der eigenen Wichtigkeit leidet und Mitarbeitende im Homeoffice gefühlt nicht mehr greifbar sind.
Sehnsüchte kommen häufig in dem Moment hoch, wenn wir etwas verloren haben: Im Berufsleben kann das die angestammte Position sein, der gewohnte Erfolg in der Akquise, ein liebgewonnener Status. Oder vielleicht auch finanzielle Zuwächse, wenn wir in einem solchen Jahr zurückstecken mussten – und sei es lediglich mit Verzicht auf einen höheren Bonus oder eine Zulage.
Sehnsucht kann sich auch entwickeln, wenn wir immer stärker merken, dass an dem Ort, an dem wir gerade sind, etwas nicht stimmt, dass uns etwas fehlt, dass wir immer wieder enttäuscht werden, uns zum Beispiel ausgeschlossen fühlen, nicht effektiv genug oder einfach fehl am Platz. Meist sind solche Eindrücke ein Hinweis darauf, dass wir dringend über Veränderung nachdenken sollten.
Sehnsucht ist ein trügerisches Gefühl, denn oft ist es ein Deckmantel für ein Bedürfnis, das ich zwar habe, aber für das ich selbst nichts zu tun bereit bin. Ich will das Ergebnis, aber mich nicht dafür anstrengen oder gar verändern. Am offensichtlichsten wird dies bei der Sehnsucht im Beziehungsleben: Da haben wir Sehnsucht nach einem Ex-Partner, aber nur nach dessen Vorteilen. Und im Berufsleben haben wir Sehnsucht nach einem angenehmeren Arbeiten, einem leichteren Leben, mehr Erfolg oder mehr Gehalt oder auch besseren Kollegen, Chefs und Mitarbeitern. Sehnsucht weist psychologisch gesehen immer auf ein unerfülltes Bedürfnis hin und es ist aufschlussreich, dahinter zu kommen, was das sein kann.
Gerade mit steigender Seniorität im Job kann uns das Gefühl der Sehnsucht von hinten anfallen, in einer Situation, die wir vielleicht vor kurzer Zeit noch mit Selbstverständlichkeit geregelt hätten, die sich aber gerade nicht mit Routine erledigen lässt, weil das Unterbewusstsein nach etwas anderem strebt. Da widerstrebt es uns auf einmal, die jährliche Zielvereinbarung wieder als unangenehme Farce zu erleben. Da wollen wir plötzlich mitten in einem wichtigen Kundengespräch unser Produkt nicht mehr verkaufen müssen, obwohl wir das seit 15 Jahren erfolgreich tun. Oder wir wollen einfach nicht mehr das Gefühl haben, eine ganze Truppe zum Jagen tragen zu müssen, obwohl wir das bisher passioniert und durchaus erfolgreich getan haben. Und manchmal verlieren wir auch den Sinn und wünschen uns, etwas zu tun, das die Welt ein bisschen besser macht.
Willkommen im Land der Möglichkeiten. Der Weg dahin beginnt oft mit dem Gefühl Sehnsucht.
Ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit einer Sehnsucht ist immer der Drang nach Verwirklichung. Was sind wir bereit, dafür zu tun? Es gibt übrigens beide Richtungen: Es gibt Sehnsüchte, deren Wichtigkeit abnehmen mit der Zeit. Und es gibt welche, wenn wir die einmal gedacht haben, können wir nicht mehr zurück. Meine Empfehlung: Geben Sie den Gedanken an Ihre Sehnsüchte Raum, prüfen Sie, wie ernsthaft und nachhaltig sie sind, und seien Sie dabei möglichst ehrlich mit sich selbst. Sprechen Sie mit einem vertrauten Menschen darüber. Und dann handeln Sie. Entweder in Ihrem gewohnten Umfeld. Oder eben anderswo.
Sehnsucht ist leider nicht nur unersättlich, sondern auch undankbar, denn weder ein neuer Lebenspartner noch ein interessanterer Job noch ein besserer Status oder ein beliebig hoher Geldbetrag reicht zur Stillung.