Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist uns kürzlich wieder begegnet:
„Nein, das habe ich mich natürlich nicht getraut zu fragen. Das fragt man doch nicht…“
Diese Art Situationen kennen wir alle: Die letzten Worte unseres Vorgesetzten, gerade beim Hinausgehen nach dem Jour fixe, war das jetzt Ausdruck von Unzufriedenheit oder nur dahingesagt? Oder der so gehässig klingende Satz des Kollegen gerade auf dem Flur. Er ist uns ohnehin suspekt mit seinen Launen, aber was war damit wohl wieder gemeint – müssen Sie das persönlich nehmen? Es hörte sich an wie eine böse Unterstellung. Vielleicht haben Sie selbst etwas gesagt oder nicht gesagt, was ihm aufgestoßen sein könnte. Oder es war schlicht Ausdruck seines Neides oder Ärgers, den Sie bei ihm vermuten, weil Ihnen viele Dinge gut gelingen und ihm gerade wohl nichts.
Vermutlich haben auch Sie mitunter solche kommunikativen Fragezeichen. Gerade jetzt kommt dazu, dass wir vieles via Video Call erledigen und ein Teil der Körpersprache, der Energie des anderen nicht mehr im Raum erlebbar ist, sondern nur im Ausschnitt auf einer kleinen Kachel sichtbar wird. Wie oft haben Sie schon über mutmaßliche Interpretationen der anderen gegrübelt und wie oft haben sich diese als nicht zutreffend erwiesen? Wenn Sie das kennen, gehören Sie vermutlich auch (wie so viele) zu den Menschen, die sich immer wieder fragen, was andere gerade denken oder warum sie so handeln, wie sie handeln.
Gerne erzähle ich zu solchen Situationen die Geschichte von dem Bär und der Todesliste, in der es um Mut und um Entscheidungen geht. Auch um das Aushalten von Komplexität. Und um das Voranbringen einer Situation durch den Mut nachzufragen und zwar mit vollem Risiko. Und auch Präsenz spielt eine wichtige Rolle:
Im Wald herrscht Unruhe. Der Bär hat eine Todesliste erstellt. Es heißt, wer auf der Liste steht, der stirbt binnen weniger Tage. Die Tiere im Wald haben Angst und sprechen über nichts anderes mehr. Als erster fasst sich der Hirsch ein Herz und geht zur Bärenhöhle und fragt mit röhrender Stimme: „Bär! Bär! Steh ich auf deiner Todesliste?“ Der Bär steht vor seiner Höhle und brummt ein lautes: „Ja“. Der Hirsch rennt davon – und drei Tage später ist er tot.
Dann schleicht sich der schlaue Fuchs an die Bärenhöhle heran und beobachtet den Bären, wie er majestätisch vor der Höhle liegt. Und als der Bär beginnt sich zu räkeln, fragt der Fuchs mit schmeichelnder Stimme: „Bär, lieber Bär, sag mal, stehe ich etwa auch auf deiner Liste?“ Der Bär grunzt ein gelangweiltes: „Ja“ und zwei Tage später ist der Fuchs tot.
Schließlich kommt der Hase entlang des Weges gehoppelt. Er traut sich zwar ganz weit vor an die Höhle des Bären, springt aber vor Aufregung von der einen zur anderen Seite der Höhle, sodass der Bär Mühe hat, ihm mit den Blicken zu folgen. Dann fragt der Hase mit vorwitziger Stimme: „Bär, steh ich etwa auch auf deiner Liste?“, und ist schon wieder auf die andere Seite gehüpft. Der Bär brummt sein „Ja“ vorsichtshalber in Richtung Mitte und sofort fragt der Hase mit näselnder Stimme weiter: „Bär, Bär, kannst du mich denn von der Liste streichen?“. Der Bär überlegt kurz über diese unerwartete Frage und brummt dann wieder in die Mitte: „Ja, kann ich.“ Und der Hase lebte friedlich im Wald weiter bis ans Ende seiner Tage.