Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist uns kürzlich wieder begegnet:
„Er ist unberechenbar, intrigant und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Warum merkt das denn nur keiner?“
Jeder hatte schon einmal einen solchen Chef/in, Kollegen/in oder auch Kunden/in: sympathisch und menschlich durchaus ok, manchmal sogar mit ausgezeichnetem Charme, beneidenswerter Leichtigkeit und großem Talent, andere zu überzeugen. Und bei näherem Hinsehen: berechnend bis zum Anschlag, skrupellos auf den eigenen Vorteil bedacht, karriereorientiert mit jeder Faser und stets bereit, das Blaue vom Himmel weg zu erzählen, wenn es nur der eigenen Sache dient. Meist ist diese Mischung an Charaktereigenschaften in Führungsetagen gern gesehen, denn Menschen, die mit diesen durchaus nützlichen Talenten gesegnet sind, verfügen über viele Eigenschaften, die wir in Führungsrollen hoch schätzen: Selbstbewusstsein, Überzeugungsfähigkeit, Mut und Risikofreude, Durchsetzungskraft, Optimismus, Energie und nicht zuletzt auch Resilienz und langen Atem.
Manchmal werden diejenigen am ehesten gehört, die sich am lautesten und am vehementesten Gehör verschaffen. Oft gewinnt in Bewerbungsprozessen um Positionen oder Projekte, wer sich besser verkaufen kann und sich selbst jede Menge zutraut. Gerade wenn die Lage schwierig und die Situation anspruchsvoll ist, erleben wir in Unternehmen, dass es eine Verführung gibt, diejenigen mehr zu hören, die Unmögliches, Großes und Glanzvolles versprechen. Die Sehnsucht nach dem Retter ist nur allzu menschlich, sei es Politik, Medizin, Religion oder eben auch im Unternehmen.
Dagegen gehört viel Mut dazu, in schwierigen Situationen nach vorne zu treten, eigene Zweifel oder Unsicherheit zu zeigen, einen schweren Weg zu prophezeien, realistische Schritte aufzuzeigen und sich selbst nicht als allwissenden Übermenschen zu präsentieren, sondern als jemanden, der sich anbietet für eine schwere Aufgabe, ohne den Erfolg vorhersehen zu können, mit Schwächen und Defiziten und der auch die anderen an seiner Seite braucht, um den Erfolg zu erreichen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass wir im Coaching oft Menschen treffen, die viel Selbstreflexion besitzen, die ihre Stärken und ihre Verführbarkeiten gut kennen, die ihren Job ernst nehmen und verantwortungsvoll ausüben, ohne darin zu versinken, und die sich ein ausgewogenes Leben mit privatem Anteil erhalten wollen. Solche Menschen wissen häufig ganz genau, was für ein Schleudersitz eine Führungsrolle sein kann. Sie wissen, wie gut es sich scheitern lässt, wenn gerade in den heutigen Zeiten der volatilen und ambiguen Umwelt die Entscheidung für rechts, links, geradeaus oder rückwärts zu treffen ist, und wie sehr eine noch größere Aufgabe den Menschen verändern kann. Und die selbst lieber im Hintergrund, in der sicheren zweiten Reihe bleiben.
Menschlich ist das sehr verständlich und nachvollziehbar. Und dennoch bin ich der Überzeugung, dass wir mehr dieser Menschen aus der zweiten Reihe in die erste Reihe schicken sollten. Es tut manchmal weh, zu erkennen, dass es häufig an der Angst vor mehr Präsenz, mehr Einfluss, mehr Sichtbarkeit, mehr Außenwirkung zu liegen scheint, dass die eigentlich Fähigen sich nicht trauen, ganz nach vorne zu treten. Oft sage ich dann eben diesen Satz: Überlassen Sie die Bühne nicht den Schaumschlägern!
Jede Rolle bietet einen Gestaltungsraum, den ich mit meiner eigenen Individualität, mit meinem eigenem Anspruch füllen kann. Wenn wir mit Aufgaben liebäugeln und uns zurückziehen mit: „Ach nein, das würde mir nicht auf Dauer gefallen, das geht nicht, das kann ich doch auch gar nicht“, dann schwingt immer auch eine Sehnsucht mit – und vielleicht auch ein Traum, den wir nicht zu realisieren wagen.
Wir alle sollten uns viel mehr an Shakespeare halten:
„Unsere Zweifel sind Verräter und häufig die Ursache für den Verlust von Dingen, die wir gewinnen könnten, scheuten wir nicht den Versuch…“