„Ich kandidiere wieder und brauche Ihre Unterstützung.“ So schrieb mir kürzlich ein Klient, mit dem ich vor drei Jahren schon einmal im Executive Coaching gearbeitet hatte und der in dieser Periode überlegte, für eine Vorstandsposition zu kandidieren, aber dann zurückzog, weil sein Management ihm dies nahelegte.
In meiner Coaching-Praxis habe ich oft mit sehr ambitionierten Menschen zu tun, die darauf hinarbeiten, an der Spitze eines Unternehmens (oder zumindest nahe darunter) zu wirken. Meistens sind diese Menschen in ein komplexes System eingebunden, in dem sie zunächst einen Weg zurücklegen müssen, bevor sie überhaupt für die Top-Management-Ebene in Frage kommen und so auch wahrgenommen werden. Das heißt konkret: In den Positionen davor stets gute Ergebnisse liefern, sich durch Einsatz und Extrameilen für mehr empfehlen, Fortbildungen zusätzlich zur täglichen Praxis durchlaufen, nachweisbare und sichtbare Erfolge erzielen, dies kommunizieren, sich vernetzen und regelmäßig mit anderen austauschen sowie eine Followership aufbauen, im Sinne von Fürsprechern, die gut über einen reden oder einen an den richtigen Stellen empfehlen.
Wenn dann die Chance einer vakanten Top-Position kommt, beginnt meist eine Phase, die anstrengend und frustrierend werden kann. Selbst wenn man gefragt wird, ob man den Hut in den Ring werfen möchte, stehen in der Regel nachfolgend zahlreiche Gespräche an und häufig noch eine formale Diagnostik, um zu beweisen, dass man ausreichend Flughöhe hat. In der Regel sind die Auswahlverfahren mehrstufige Prozesse mit unterschiedlichen involvierten Parteien, Gremien und externen Dienstleistern und meist mit der Zielsetzung, bis zum Schluss noch eine Auswahl zu haben, oft sogar aus internen und externen Kandidaten.
Bei meinen Klienten erlebe ich regelmäßig, wie ambivalent ein solches Verfahren erlebt wird. Die Hintergründe können unterschiedlich sein: Vielleicht ist man genau für eine solche Position in das Unternehmen gewechselt, hält sich für gesetzt und findet sich dann in einem Auswahlverfahren mit mehreren anderen wieder. Oder man hat sich zur Kandidatur schwerstens durchgerungen („…eigentlich wollte ich nie an die Spitze, aber jetzt wurde ich gefragt…“; „…ich habe schon Bedenken, wie sich mein Privatleben entwickeln könnte…“, „…eigentlich will ich das nicht, aber die Vorstellung, wer dann meine Chefin werden wird, treibt mich an…“), hat alles für sich durchdacht und muss dann akzeptieren, dass man leider nicht die/der alleinige Kandidat/in ist.
Was ich immer wieder feststelle ist, wie schwierig sich dann die Gefühlslage zur Position, zur Kandidatur oder gar zum Unternehmen entwickelt: von einer kämpferischen Haltung à la „…euch zeige ich jetzt, was ich drauf habe…“ bis zu einem trotzigen Unterton: „…ich werde mich aber nicht verstellen dafür…“ oder auch einem beleidigten Grundgefühl: „…unter diesen Umständen weiß ich gar nicht, ob ich wirklich noch Lust darauf habe…“.
Meine Unterstützung in dieser Lage startet in der Regel mit dem Hinweis, worin die eigentliche Herausforderung besteht: nämlich darin, jetzt schon die Flughöhe zu zeigen, die in einer Top-Position gefordert ist und vorausgesetzt wird. Diese Flughöhe beginnt mit der mentalen Vorwegnahme, dass ich schon da bin, wo ich hinwill und mich vor allem auch so schon verhalte. Zur Flughöhe gehört, dass ich Entscheidungen treffe. In diesem Falle zunächst die Entscheidung, dass ich dort wirklich hinwill und mich entsprechend dafür einsetze, indem ich mich an das Spiel und dessen Regeln halte. Denn das Spiel an der Spitze und der Weg dorthin ist ein anderes als vorher, und dafür braucht es eine grundlegende Akzeptanz. Weitere sogenannte Delearnings sind notwendig, das heißt bewusstes anderes Verhalten als in vorherigen Positionen. Zum Beispiel durch das Einnehmen eines deutlich strategischeren Blicks, der auch breiter sein sollte als die eigene Expertensicht es bisher hergab und der bewusst auch andere Facetten betrachtet, zum Beispiel technische oder kaufmännische Aspekte, auch wenn ich bisher auf andere Gebiete fokussiert war. Denn es geht jetzt mehr um Breite als um Tiefe. Ein weiteres Delearning besteht darin, zu akzeptieren, dass nur Erfahrung oder Wissen nicht ausreicht, dass es vielmehr und ganz wesentlich um ein Verkaufen nach außen hin geht und dies sichtbar werden muss.
In der Besetzung von Top-Management-Positionen wollen Entscheider die Flughöhe der Kandidaten schon im Prozess deutlich erkennen können. Dazu sind die folgenden zwei Kriterien die wesentlichsten Punkte, die in jedem Prozessschritt (Gespräch, Interview, Diagnostik, Pitch, Präsentation etc.) vorbereitet und gezeigt werden sollten:
- Kommunikation, so wie es die künftige Position erfordert. Das heißt konkret: Nicht jede Wahrheit darf in dieser Phase gesagt werden, es geht eindeutig mehr um Wirkung. Es geht auch nicht um Vollständigkeit, sondern immer um eine zugespitzte Auswahl. Und ganz wichtig: Vermeiden Sie den Belehrungsmodus. Egal, ob Sie Ihren CV vorstellen oder einen strategischen Fall präsentieren: Fokussieren Sie sich und zeigen Sie Ihre Flughöhe.
- Impulskontrolle: Lassen Sie sich voll und ganz auf den Prozess ein, ohne Beleidigtsein, ohne Trotz, ohne Überheblichkeit, sondern lediglich mit dem Willen zu zeigen, was Sie können – und dafür auch etwas zu tun. Im Umgang mit dem Prozess demonstrieren Sie Ihre Professionalität und Sie zeigen, dass Sie die Regeln kennen und anerkennen.
Flughöhe ist, wie so viele Entwicklungen auf Topmanagement-Ebene, eine Frage der Selbstreflexion und der Arbeit an sich selbst. Und Flughöhe ist eine Frage der Entscheidung. So erlebe ich immer wieder, dass sich auf diesen letzten Metern vor einer Top-Position noch einmal die eigene Meinung ändert und ein selbst oder fremd initiierter Rückzug durchaus die bessere Entscheidung sein kann.
Nutzen Sie Ihre Chancen und bleiben Sie dran!