Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist mir kürzlich wieder begegnet:
„In unserer Organisation geht nichts voran. Es ist wie eine Lähmung – leider vor allem bei den Führungskräften.“
Diesen Satz sagte der Geschäftsführer eines mittelgroßen Finanzdienstleistungsunternehmens bei unserer ersten Begegnung. Er sah unglücklich dabei aus, resigniert und kraftlos. Wieviel die Situation auch mit ihm selbst zu tun hatte, haben wir in unseren nachfolgenden Gesprächen immer wieder erkannt.
Als Berater können wir von außen, mit Abstand und ohne eigene Betroffenheit auf eine Organisation blicken und es ist immer wieder verblüffend, wie deutlich sich die Identität eines Unternehmens erkennen lässt. Jedes Unternehmen hat eine ganz eigene Identität, die sich natürlich aus der Summe vieler einzelner Identitäten ergibt. Dazu kommen der Vorbildeffekt und der Hang zum Nachahmen: Alles das, was von den leitenden Führungskräften in die Organisation hineingetragen wird, überträgt sich auf die Mitarbeiter – mutmaßlich auch die von besagtem Geschäftsführer beklagte Lähmung bei seinen Führungskräften. Es stellt sich die Frage, wo diese Lähmung herkommt, worin liegt sie begründet?
Ebenso, wie man treffende Worte, Adjektive und Zuschreibungen für Menschen verwenden kann, so gibt es immer auch Beschreibungen für Organisationen, für deren kollektives Musterverhalten, für deren Umgang miteinander, für das organisationale Selbstbewusstsein und auch für organisationale Zweifel am eigenen Weg. Es gibt Organisationen, die sind offen für Neues, die versuchen viel, die führen auch einmal etwas ein, was nicht funktioniert, sind fehlertolerant. Andere erkennt man schon beim Betreten des Foyers als konservativ, verschlossen, vielleicht sogar rückständig oder eher vergangenheitsbezogen. Bei den einen weht ein Geist von Freiheit, Vielfalt und Diversität und bei anderen findet sich eher eine geschlossene Atmosphäre mit der Tendenz zu ebensolchen Verhaltensmustern. Äußerlichkeiten wie Kleiderordnung, Umgangston oder Einrichtung geben meist schon Aufschluss und folgen ja auch dem Prinzip Vorbild: Wenn die Vorstände beginnen, Sneaker zu tragen, ist es eine Frage der Zeit, bis alle dies tun.
Die Summe aller Eigenschaften und Verhaltensmuster einer Organisation treten als Kultur in Erscheinung. Eine Kultur trägt die Aufforderung (oder gar die Verpflichtung?) zum Mitmachen in sich, gerade für neue Teammitglieder. Trotzdem, trotz einer vorherrschenden Kultur ist immer wieder jeder einzelne gefragt: nämlich ob und wie wir die Kultur unterstützen oder bewusst oder unbewusst einen Kontrapunkt setzen. Denn jede Kultur funktioniert nur, wenn die Einzelnen mitmachen und wenn aus den Einzelnen eine Mehrheit wird.
Das gleiche Prinzip gilt umgekehrt, wenn eine Kulturveränderung ansteht. Das ist nie leicht und auch nicht schnell umzusetzen. Es braucht nicht nur die glaubwürdigen Argumente für eine Veränderung, sondern noch dazu das richtige Momentum, um der Veränderung eine Chance zu geben, eine ausreichende Zahl Mitmachende und Follower, darunter eben auch die Vorbilder, die andere bewegen können. Und es braucht leider eine Menge Geduld, um sehr viele sehr kleine Veränderungsschritte zu ertragen.
Ein spannender Aspekt und gleichzeitig eine versöhnliche Entdeckung ist, dass dysfunktionale oder kontraproduktive Strukturen sich immer deswegen entwickeln, weil sie im Moment des Entstehens einen Sinn ergeben haben. Um nun mit anderen Rahmenbedingungen eine Veränderung zu bewirken, braucht es die Würdigung des alten Vorgehens und nicht die Verdammnis. Eine neue Richtung funktioniert, wenn sowohl der „alte“ Sinn gewürdigt als auch der neue Sinn begründet wird und so bei Mitarbeitenden als Entwicklung ankommt. Ein reines Verkünden einer neuen Kultur bringt genauso wenig wie das Verdammen der alten oder die Betrachtung des neuen Weges als einzig wahre Richtung.
Eine weitere alte Weisheit trifft es auch: Manchmal braucht es schlicht neue Besen, um wieder gut kehren zu können. Mein Klient von oben hat das Unternehmen gewechselt und das hat sowohl ihm als auch der alten Organisation gutgetan.